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Fülle - was ist das überhaupt?

 

Jede Menge Wandsprüche fallen mir ein, über Dankbarkeit und Wohlstand, und ein paar Glaubenssätze gesellen sich auch dazu:

„Iss deinen Teller leer, die Kinder in Afrika...“ und: „Früher hatten wir viel weniger als ihr, ihr solltet dankbar sein!“

Schuld und Scham. Ist das das Gegenteil von Fülle, der Mangel?

Wir stammen von Generationen ab, die existenziell bedrohlichen Mangel auf allen Ebenen erlebt haben. Dieses Erbe wirkt heute noch in uns nach als transgenerationales Trauma.

 

Mein Kater liegt erschöpft und behäbig in seinem Korb und schaut mich an. Für ihn ist Fülle, wenn es noch eine Extra-Mahlzeit gibt.

 

Bildrechte: Nicole Zijnen

 

Ist es das? Dieses gewisse Extra? Ein „noch mehr“? Oder ist es vielleicht ein „genug haben“?

 

Ich forsche weiter. Wir leben in einer Zeit, in der die meisten „genug haben“.

Das „Haben“ ist kein Problem, denn wir können tatsächlich fast alles kaufen oder bestellen. Tatsächlich gibt es eher eine „Überfülle“, denn im Supermarkt finden wir nicht nur eine Sorte Erdbeermarmelade, sondern ungefähr 20 davon. Und wenn Lebensmittel abgelaufen sind, landen sie in der Tonne. Also doch Überfülle?

Erdbeeren können wir das ganze Jahr über kaufen, andere Produkte kommen aus China oder Chile, aus Kolumbien und aus Spanien, aus der ganzen Welt. In Deutschland werden die Schweine gezüchtet, die in China gegessen werden. Eigentlich müsste niemand hungern...

 

Ist unser Problem vielleicht nicht, dass wir nicht satt wären, sondern dass wir verlernt haben, zu genießen?

Warum verbinde ich Fülle eigentlich mit Essen?

 

Ein Zustand der Fülle entsteht nicht im Kopf, sondern im Körper.

 

Unser Körper ist nicht nur Zuhause und Schutz, er meldet uns, zuverlässig wie ein Seismograph, ob es uns gerade gut geht oder nicht.

Wir können uns die Welt nach unseren Vorstellungen zurechtlegen und Gedanken der Dankbarkeit, der Fülle und der Zufriedenheit einladen.

Wenn wir uns aber gerade Stress haben und uns in einem Zustand der Dysregulation befinden, unser Nervensystem also über- oder untererregt ist, können diese Gedanken nicht „andocken“.

Deshalb verpufft es auch, wenn uns jemand sagt, wie wir uns fühlen oder wie wir denken sollten. Es funktioniert nicht!

 

Nur über unseren Körper können wir wahrnehmen, dass wir uns in einem Zustand der Fülle oder des Mangels befinden, ob es ein „Genug“ oder ein „Zuwenig“ gibt.

Dazu benötigen wir Hilfsmittel: mitfühlende Achtsamkeit, um geduldig wahrzunehmen, wie es uns geht, und es bedarf einer gewissen Präsenz im Hier und Jetzt.

 

Oft lenken wir uns allerdings davon ab, was wir gerade tun. Wir springen mit unserer Aufmerksamkeit hin und her, auch beim Essen. So ist es kein Wunder, wenn wir zu viel essen, zu wenig schlafen, zu viel Bildschirmzeit produzieren und unsere eigenen Grenzen übergehen.

Wir sind gierig geworden nach „Mehr“, weil wir den Kontakt zu uns selbst verloren haben und uns von unserem eigenen Narzissmus steuern lassen.

Wir sind Getriebene geworden, auf der Suche nach dem oder der besten Partner*in, dem neuesten Handy, dem modernsten Auto etc.

 

Wir wissen nicht mehr, wie Zufriedenheit funktioniert.

Wir haben verlernt, mit Genuss zu empfangen. 

Dabei geht es nicht „nur“ ums Essen, sondern um alles, was wir über unsere Sinne wahrnehmen – schauen, wie die Sonne am Horizont im Meer versinkt, den köstlichen Duft der Himbeeren riechen, sich in die Umarmung des oder der Geliebten hinein sinken lassen, den Wind mit den Blättern der Bäume rascheln hören, das neue leckere Essen kosten und die feinen Gewürze heraus schmecken... das ist wahre Fülle.

 

Diese finden wir tatsächlich in den vielen kleinen Dingen, die uns wirklich berühren und die wir nur wahrnehmen, wenn wir uns Zeit lassen, sie zu entdecken.

 

Das Lächeln einer überraschenden Begegnung, den Schmetterling auf der Wiese, die Form der Wolke am Himmel, das liebevolle Wort einer Freundin, den unerwarteten Gruß eines Fremden, die Farben des Regenbogens. All das können wir genießen lernen und tief in uns aufnehmen. Mit allen Sinnen.

 

Das Wesen der Fülle

Wir fühlen uns auf allen Ebenen „gut genährt“, wenn wir uns unserem Leben wahrhaftige, authentische und liebevolle Beziehungen führen.

In Verbindung gehen ist das wichtigste, was uns Menschen antreibt und erfüllt, weit über eine gute Mahlzeit oder ein gut gefülltes Bankkonto hinaus.

Was nützt uns aller Wohlstand, wenn wir abends in ein leeres Haus kommen und wir uns mit niemandem austauschen können?

 

Wir wollen gesehen werden, und wir haben eine große Sehnsucht danach, beantwortet zu sein, uns in den Augen des Gegenübers zu spiegeln und uns geliebt zu fühlen. Das können wir uns nur bedingt selbst schenken.

 

Tiefe, aufrichtige Beziehungen – und das muss nicht unbedingt ein*e Partner*in sein – nähren unsere emotionalen Bedürfnisse und unsere Seele.

Das Zuhören, das Sich-Einlassen und gegenseitige Aushalten, das Streiten und Versöhnen, auch ein gesundes Abgrenzen und „Nein“-sagen, all das erfüllt uns.

 

Und das sind die kleinen Dinge des Alltags, die wir überall finden können – Zuhause, beim Spazierengehen, bei der Arbeit, im Urlaub ... der freundliche Blick, das Lächeln, die herzliche Geste, das aufrichtige Wort...

 

So kann jede*r von uns dazu beitragen, Fülle in die Welt zu verschenken und zu genießen.

 

Das weiß auch mein Kater, der schnurrend um meine Beine streicht.

Oder hat er gar Hunger?

 

Besten Dank für diesen Gastbeitrag an 

 

Nicole Zijnen

Heilpraktikerin für Psychotherapie, MBSR-Lehrerin und 

achtsamkeitsbasierte Traumabegleitung

 

 

Bildrechte: Nicole Zihnen 

 

Weiterführende Informationen finden Sie im Link

Praxis Lebensfreude